Rede an der Pride-Demonstration
gehalten am 21. Juni 2025 auf dem Helvetiaplatz in Zürich
Das Motto der diesjährigen Pride lautete «Gemeinsam für unsere Gesundheit» und erinnert unter anderem an den Kampf gegen HIV und Aids. Ich durfte die Demo mit einer Rede eröffnen.
«Liebe Schwestern!
Jakob Rudolf Forster wurde 1853 im Toggenburg geboren und lebte offen homosexuell. Er landete darum im Gefängnis. Auch abgeschoben nach Argentinien sollte er werden durch den Schweizer Staat. Jakob Rudolf, der sich als «Urning» bezeichnete, schreibt dazu: «Auch uns gehört derselbe Schutz, auch uns gegenüber hat die menschliche Gesellschaft Pflichten zu erfüllen, d. h. die uns unabwendbare Liebe nicht gewaltsam, auf barbarische grausame Weise, unterdrücken zu wollen. Ich war, bin und bleibe Urning!»
Dieses Versprechen haben viele auch in schlimmsten Zeiten der letzten 150 Jahre gehalten:
– Mit Widerstand unter menschenverachtenden Regimen
– Mit Solidarität unter elendigsten Bedingungen
1983 starb in der Schweiz der erste schwule Mann an Aids. Es war eine schlimme Zeit. Tausende Menschen aus unserer Community wurden uns genommen. Wer sich zu ihnen stellte, stand am Rand der Gesellschaft. Vor genau 40 Jahren wurde die Aids-Hilfe Schweiz gegründet – durch schwule Aktivisten und unterstützt von ganz vielen Menschen, die oft selbst nicht viel hatten. Wie viele Freund:innen haben wir verloren. Viele sind an Aids verstorben. Andere an der gesellschaftlichen Unmöglichkeit, selbstbestimmt zu leben. Wir mussten mit dem Sterben umgehen.
Aber auch in der Zeit des grössten Sterbens war unsere Losung der Hoffnung: «Begrabe deine Freunde am Morgen – Protestiere am Nachmittag – und tanze die ganze Nacht.» Wir haben gekämpft, um zu überleben. Denn das Recht, zu leben, das Recht als Mensch, die Menschenrechte sind für alle da. Sie sind universell, weil sie für uns Queers genau so gelten wie für alle anderen. Sie sind auch universell, weil sie global sind. Sie gelten für jeden Menschen dieser Welt. Und wenn irgendwo auf der Welt jemand um seine Rechte betrogen wird, ist das ein Angriff auf uns alle; in Gaza City und Los Angeles; in Budapest und Kampala.
Wir sind dort laut, wo Ungerechtigkeiten geschaffen werden:
Warum darf über das Leben und die Gesundheit von trans Menschen politisch verhandelt werden?
Warum kostet ein HIV-Test immer noch 50 Franken? Wo ist das Geld für PrEP?
Wieso sind Rechte von Sexarbeiter:innen nur wichtig, wenn ihre Körper kontrolliert werden sollen?
Warum kann ein amerikanischer Tyrann im Alleingang das Sterben von Tausenden Menschen mit HIV beschliessen?
Wir Queers erleben Gewalt:
– Weil Hass normaler ist als Liebe.
– Weil Angstmacherei einfacher ist als Wissen.
– Weil Ausbeutung mehr Profit bringt als Gerechtigkeit.
1886 schrieb der Bundesrat, dass Jakob Rudolf Forster eine «sehr anrüchige, wenn nicht gänzlich irrsinnige» Person sei. (Was für ein eigenartiges Kompliment, wenn dein Sexleben sogar vom Bundesrat kommentiert wird.)
1987 bezeichnete der bayrische Politiker Gauweiler an Aids Erkrankte als «Aussätzige» und forderte, dass sie «abgesondert» werden.
2014 sagte SVP-Nationalrat Bortoluzzi, wir hätten «Hirnlappen, die verkehrt laufen».
Wir müssen benennen, wer uns schaden will: Sie reden nicht über uns, weil es ihnen um uns geht. Sie hetzen nicht gegen uns, weil sie sich ernsthaft um etwas sorgen. Die Reichen und Wichtigen stellen sich gerne auf die Seite jener, die ihren Reichtum vergrössern und ihre Macht erweitern – und wir wurden schon allzu häufig degradiert zur Verhandlungsmasse im Spiel der Macht.
Ob Aids-Epidemie, Massenmord im Gaza oder der faschistische Angriff auf Trans Menschen in den USA: Silence equals death. Schweigen tötet! Darum lasst uns zusammen laut sein – auch für alle, die heute nicht hier sein können; wegen ihrer Gesundheit, Armut oder Angst; wegen der Anwesenheit der Polizei oder weil sie nicht hier leben, sondern an einem anderen Ort auf dieser Welt.
Unsere Leben sind heute ganz anders als 1886 oder 1987 oder 2014. Aber eines bleibt gleich: Wir stehen nicht für Hass oder Ausbeutung, bei uns lebt die Hoffnung auf Freiheit!
Lasst uns dabei Community sein. In einer Welt, die grausam und gewaltvoll wird, ist es eine Revolution, zärtlich zu sein. Wir sind eine komplizierte Community, keine Einheit. Unser «Wir» ist keine Armee. Wir sind eine verrückte Familie. Und wie es immer ist in Familien: Wir müssen uns nicht immer einig sein, um verbunden zu bleiben. Jene, mit denen wir nicht einig sind – das sind nicht unbedingt die gleichen, die unser Leben unsicher machen oder uns schaden wollen. Verbündete finden sich an ungewohnten Orten – in Kirchen genauso wie bei der Antifa.
Klar: Solidarität ist nicht einfach! Das ist echte Übungssache. Solidarität heisst nicht, dass wir uns einig sind; Solidarität heisst, dass wir füreinander sorgen. Und es heisst: Kritik annehmen, wenn sie von gutem Herzen und schlauem Verstand kommt. Ich habe viel gelernt von meinen trans Freund:innen, von schwulen Senioren und nicht-binären Teenagern und migrantischen Lesben. Sie haben mich weitergebracht, weil sie kritisch mit mir waren – denn sie haben es solidarisch gemacht, mit Respekt, von Herzen.
Heute sind wir tausende Menschen. Wir haben Macht, wir können was tun. Wir sind widerspenstig und widerständig! Aber dafür müssen wir zusammenstehen und organisiert handeln. Ich rufe dich auf:
Wird’ Mitglied bei LGBT-Organisationen wie Pink Cross, LOS oder TGNS! Spende an die Aids-Hilfe! Sonst ist bald niemand mehr da, der sich einsetzt!
Schaff’ Allianzen – beim Job, im Ausland, im Gym und am Abstimmungssonntag. Wir brauchen in diesen Zeiten alle, die können und alle, die noch nicht wissen, dass sie wollen!
Sorge dich um alle, die nicht so viel Freiheit haben wie du. Alle, die aus der Mitte fallen: Geflüchtete und alle, die nicht mehr flüchten können; Armutsbetroffene, chronisch Kranke, trans Menschen, Sexarbeiter:innen und queere Teenager.
Heute erinnere ich mich an Jakob Rudolf Forster, an schwule HIV-Aktivisten, kämpferische trans Frauen und mutige Sexarbeiterinnen – ihre Geschichte, ihr Kämpfen, ihr Sterben und ihr Überleben ist unsere Verpflichtung. Heute lösen wir das Versprechen der Vergessenen, Vergangenen, Verstorbenen und Ermordeten ein. Unsere Leben schaffen Freiheit für alle. Gehen wir Hand in Hand, denn wir wollen nicht sterben, wir wollen nicht nur überleben, wir wollen das ganze volle, bunte, verrückte, absurde Leben.
Denn ganz am Schluss, ist es nicht so kompliziert. Wir wurden nicht so bunt auf diese Erde geworfen, um einfach normal zu werden. Wir sind hier, um glücklich zu sein! Und wer das verhindert oder bekämpft, ist halt einfach scheisse und kriegt Ärger mit der ganzen Familie!»